Jan-Frederik Bandel/Gerd Schäfer
Ein Bewohner von Zwischenwelten
Arnfrid Astel und Wolli Köhler sprechen über Hubert Fichte


Wolli Köhler im Gespräch mit Jan-Frederik Bandel über St. Pauli, Hubert Fichte, Norbert Grupe, den Prinz von Homburg, Wolli Indienfahrer, Wolf Wondratschek und Fritz J. Raddatz

Arnfrid Astel im Gespräch mit Gerd Schäfer über Archilochos, Sappho, Martial, Empedokles, Ezra Pound und Hubert Fichte

Schreibheft 63 (Oktober 2004), S. 143-86.

Bereits 1983, noch zu Lebzeiten Hubert Fichtes, veröffentlichte das Schreibheft einen Vorabdruck aus der Geschichte der Empfindlichkeit, eine längere Passage zum Kleinen Hauptbahnhof, einem Roman, der sich, so sein Untertitel, als Lob des Strichs verstand. (Daß „Strich“ dabei nicht von „Strich“ komme, sondern von „Streifen“, „von Seiltänzern, Landstreichern, Stadtstreichern, Strichvögeln“ – darauf deutete das Motto des Fichte-Freundes Peter Michel Ladiges hin.) Jäcki, Fichtes Alter ego, kehrt im Kleinen Hauptbahnhof nach Hamburg zurück, er fängt noch einmal neu an, beginnt die sechziger Jahre als freier Schriftsteller. Er betreibt Feldstudien, überquert die Reeperbahn, bummelt nachts durch St. Pauli, à la chasse.

Seit 1983 druckte das Schreibheft immer wieder Auszüge aus Fichtes Geschichte der Empfindlichkeit, streifte durch das Riesenwerk. Fichte war zum fünfzigsten Geburtstag gar ein Sonderheft gewidmet, unter der Überschrift „Vom Sprechen und vom Spucken“. Christoph Derschau und Norbert Wehr, die beiden Herausgeber, gingen darin der Frage nach, wer in der Literatur spricht, sich ausdrückt, wenn ein Autor schreibt. Dieses Geburtstagsheft von 1985 war ein Sprech- und Hörbuch, das sich hatte inspirieren lassen „von der Persönlichkeit eines Autors“, um als „bunte Palette“ ein „beziehungsreiches Netz von Fichte verwandten Geistern“ zu knüpfen. William S. Burroughs etwa sprach vom Charakteristischen eines Menschen, dem es nachzugehen gelte. Von einer „Art Feldtheorie der Worte“ war gar die Rede, wenn auch die Worte, so Burroughs weiter, im Grunde „höchst plumpe Werkzeuge“ seien. Oswald Wiener formulierte die besondere Aufgabe der Literatur, die „elementaren Mechanismen des Verstehens“ zu begreifen, Peter Michel Ladiges breitete sein „Kulinarisches System der Kartoffel“ aus, und Fichte selbst ging schließlich in Hotel Garni dem „Übergang von Wörtern in Empfindung“ nach.

Das folgende Dossier nimmt die alten Fährten wieder auf, indem es einen Blick zurückwirft auf die sechziger Jahre. Auf eine Zeit, in der Hubert Fichte mit der Palette einen Bestseller vorlegte und direkt anschließend mit Detlevs Imitationen ‚Grünspan seinen Abschied von den Illusionen jener Jahre formulierte. Es sind die Jahre der beginnenden Freundschaft mit Wolfgang Köhler, Fichtes ebenbürtigem Gesprächspartner im Interviewband Wolli Indienfahrer, jenem Wolfgang Köhler, der sein Bordell Fichte zu Ehren Palette taufte. Und es sind die Jahre, in denen das Vertrauensverhältnis mit dem Schriftsteller und Literaturredakteur Arnfrid Astel begann, der für Fichte ein wichtiger, kundiger Gesprächspartner in Fragen der Antike wurde. Denn Fichte bezog sich in seinem großen Nachlasswerk, der Geschichte der Empfindlichkeit, immer mehr auf die Anfänge der Literatur; er verstand sich als Archäologe, als Erforscher der Anfangsgründe von Wörtern und Worten. Über Astel, den Freund, schrieb er einen großen Essay: Ein Neuer Martial. Anmerkungen zum Werk Arnfrid Astels.

Im Kleinen tritt auch das Schreibheft eine Rückreise an. Es entwirft ein Bild von Hubert Fichte, dem großen Interviewer, nicht durch das geschriebene Wort – sondern durch das gesprochene, verschriftlichte. Wir haben deshalb Gespräche mit Köhler und Astel geführt; und versuchen mündlich, an Fichte und seine Widersprüche, an sein Grenzgängertum zu erinnern. Es ist eine Reise in die sechziger Jahre, zum Boxprinzen Norbert Grupe, zum indienfahrenden Paulianer Wolli Köhler, ein Trip zu Archilochos, Sappho und Herodot, zu Tintenfisch und Maulbeere, eine Exkursion nach St. Pauli und Delphi, nach Indien und ins Saarland. Orale Philologie. Das Dossier antwortet so ebenfalls auf die gegenwärtige Wieder- und Neuentdeckung Fichtes. Kathrin Röggla etwa beschäftigt sich mit dem „akustischen Fichte“ und dem „hochartifiziellen Prozeß“, den klaren Sound scheinbarer O-Töne hervorzubringen. Klaus Sander publiziert im supposé-Verlag Interviews und Radioarbeiten Fichtes und arbeitet derzeit an einer Fortsetzung des Wolli Indienfahrer. Und Thomas Meinecke, selbst Aufzeichner diffuser Identitäten von Ethnien und Geschlechtern, beendet seinen Roman Hellblau mit der Beschreibung von Fichtes Grabstein, auf dem ein griechisches Zitat zu entziffern ist. Auch hiervon, von Empedokles, ist in unserem Schreibheft-Dossier die Rede. Der neue Roman Thomas Meineckes führt seinen Inhalt bereits im Titel, Musik. Es geht um Verwandlungen, wobei das Alte, alte Medien nicht außen vor bleiben. Auf dem Buchumschlag glaubt man, vielleicht gar in Erinnerung an Hubert Fichtes Plattenragout, eine kurzlebige konkret-Rubrik der sechziger Jahre, eine Schallplatte zu erkennen; es stellt sich jedoch als eine Lakritz-, eine Hariboschnecke heraus. Darin bleibt, der Sprachkünstler Fichte wird uns dies von seiner Wolke hinab zugestehen, ein Maler auszumachen, Hieronymus Bosch. Dessen Triptychon Der Garten der Lüste bildet das bestimmende Sehnsuchtsbild von Fichtes Palette (wie im übrigen von Abend mit Goldrand, Arno Schmidts großer manieristischer Märchenposse über die gesellschaftlichen, die sexuellen Phantasien der sechziger Jahre, über die Strichvögel und Landstreicher einer untergehenden Welt).

Mögen die folgenden Gespräche eine lustvolle Erinnerung an die Sehnsüchte der sechziger Jahre und an Hubert Fichte bewahren, als songline zwischen Altem und Neuem, zwischen den Alten und den Jungen.



Buchholz und Dillingen, September 2004



Arnfrid Astel, geb. 1933 in München, lebt in Saarbrücken und Trier. Schriftsteller. Buchveröffentlichungen u.a.: Neues (&altes) vom Rechtsstaat & von mir. Alle Epigramme (1978), Die Faust meines Großvaters & andere Freiübungen (1979), Die Amsel fliegt auf. Der Zweig winkt ihr nach (1982), Wohin der Hase läuft. Epigramme und ein Vortrag. Mit einem Essay von Hubert Fichte (1992), Jambe(n) & Schmetterling(e) oder Amor & Psyche. Eine Schmetterlingskunde (1993), Sternbilder. West-östliche Konstellationen (1999), Was ich dir sagen will ... kann ich dir zeigen (2001). Siehe auch: www.zikaden.de

Jan-Frederik Bandel, geb. 1977 in Wuppertal, lebt in Buchholz. Essayist, Mitarbeiter des Hubert-Fichte-Forums, Hamburg. Diverse Publikationen zu Arno Schmidt und Hubert Fichte.

Wolli (Paul Wolfgang) Köhler, geb. 1932 in Waldheim/Sachsen, lebt mit Linda, seiner Frau, in Hamburg. Privatier. Köhler ist gelernter Autoschlosser, ehemaliger Bergarbeiter, Zirkusrequisiteur, Rummelplatzarbeiter, Bordellier, Indienfahrer, Privatethnologe, Maler usw. Ferner Autor zahlreicher sorgsam vor dem Abdruck bewahrter literarischer Texte sowie einiger veröffentlichter Gedichte z.B. über jene, „Die auf der Nachtseite leben / Wie am Bahndamm das Gesträuch“. Hubert Fichte hat insgesamt vier lange Gespräche mit Köhler geführt, zwei im Sommer 1969, eins am 4. September 1976 und das letzte am 12. Dezember 1982, am Vorabend von Köhlers Abreise nach Costa Rica. Die ersten drei sind enthalten in Wolli Indienfahrer (1978), das vierte im posthum erschienenen Hamburg Hauptbahnhof. Register (1993).

Gerd Schäfer
, geb. 1960 in Dillingen / Saar (deutsch-französische Grenzregion), wo er lebt; veröffentlichte Elaborate zu Gottfried Benn, über Proust, Sennett, Turner, Vico und über Oswald Wiener; zuletzt Arbeiten über Febvre, Herder, Lessing, Momigliano, Pynchon und zu den „Sudanesischen Marginalien“. Siehe auch sein Dossier „Der Flug des Aerophils – Eine andere Moderne vor Orwell und Pynchon“ in Schreibheft 61.
Schreibheft. Zeitschrift für Literatur 63
mit Dossiers über Herman Melville, William H. Gass und Hubert Fichte.

Oktober 2004
ISBN / ISSN: 3-924071-19-5
€ 10,50
Verlag:
Rigodon-Verlag
Nieberdingstraße 18
D-45147 Essen

www.schreibheft.de