Thomas Palzer:
Hubert Fichte: Der schwarze Engel

Produktion: SWR, Erstausstrahlung: 3sat, 4. April 2005, 23.10 Uhr

Sendetermine: SWR, 3. März 2006, 0 Uhr; NDR, 6. März, 0:30 Uhr

Zum 70. Geburtstag des Pop-Dichters zeigt 3sat eine Dokumentation über sein Leben. Seine Art zu schreiben war außergewöhnlich für seine Zeit. Er interessierte sich für das Leben der Menschen am Rande der Gesellschaft – vor allem für das Leben der Menschen auf dem Kiez. Er war ein Erforscher der Subkulturen, des Abseitigen und Exotischen: der Hamburger Schriftsteller Hubert Fichte. Fichte wollte eigentlich Schauspieler werden. Schon als Kind machte er schauspielerische Erfahrungen auf diversen Bühnen Hamburgs. Hubert Fichte erkundete den Hamburger Kiez. Er interviewte Prostituierte, Stricher und Lesbierinnen.

Hubert Fichte wurde 1935 in Brandenburg geboren und zog kurze Zeit später mit der Familie nach Hamburg. Der Vater, ein jüdischer Kaufmann, musste vor den Nazis nach Schweden fliehen. Nach Kriegsende wurde Fichte, durch die arbeitet die Mutter als Schauspielerin und Souffleuse, Kinderdarsteller an diversen Bühnen engagiert. Für seine Schauspielerkarriere bricht Fichte die Schule ab, doch sein Stimmbruch wird zum Karriereknick und auch die staatliche Schauspielprüfung besteht er nicht. Fichte orientiert sich neu und kommt zum Schreiben. Es entstehen erste Erzählungen, Texte für den Rundfunk sowie ein Theaterstück. Nach Ausflügen in die Provence, in die Landwirtschaft und nach Schweden, lernt Fichte 1961 seine spätere Lebensgefährtin kennen, die Fotografin Leonore Mau.

Fichtes Werk hat einen stark autobiographischem Bezug. Er zweifelt an seinem "Ich" welches für ihn aber gleichzeitig der einzige ihm bekannten Ausgangspunkt des Schreibens ist. Der Fremdheit des Ich sucht er auf dem Weg der Erfahrung von Wirklichkeit habhaft zu werden. Dieser Weg führte ihn in die verborgenen Schichten des Bewußtseins, die er bei Außenseitern wie bei Naturvölkern aufzuspüren suchte. Für seine ersten 14 Erzählungen unter dem Titel "Der Aufbruch nach Turku" (1963) erhielt Ficht 1963 ein Julius-Campe-Stipendium, für seinen in viele Sprachen übersetzten ersten Roman "Das Waisenhaus" (1965) den Hermann-Hesse-Preis. Held des "Waisenhauses" ist ein achtjähriger halbjüdischer Junge in einer unsicheren Welt: ein gedemütigter und verfolgter Außenseiter. In seinem zweiten, ebenfalls vielfach übersetzten Roman "Die Palette" (68) hat Fichte als täglicher Gast des gleichnamigen Hamburger Kellerlokals während dreier Jahre aufgeschrieben, was er an Lebensläufen, Bekenntnissen, Episoden, Jargon der Gammler, Anarchisten, Verlorenen und Verzweifelten erfuhr. Es folgten "Versuch über die Pubertät“ und die 19-bändige "Geschichte der Empfindlichkeit“, welche auf den Reisen nach Marokko, Brasilien, Senegal und Togo basierten. 1986 starb Hubert Fichte an Lymphdrüsenkrebs.

Der Filmemacher Thomas Palzer hat für seine Dokumentation Stimmen über Hubert Fichte gesammelt: So berichten unter anderem Leonore Mau, Fritz J. Raddatz, Peter Rühmkorf, Thomas Meinecke und Peggy Parnass über den Hamburger Pop-Poeten. Auch Fichte selber ist immer wieder in Interviews und Lesungen zu sehen – unter anderem bei der viel beachteten Lesung aus seinem "Palette“-Manuskript 1966 im legendären Hamburger Star-Club.

Länge: 60 min

"Eine Fernsehdokumentation hat die Lebensgeschichte von Fichte seit seiner Kindheit nachgezeichnet. Die Geschichte umfasst drei Kontinente: Europa, Lateinamerika und Afrika. Die Kamera hielt verschiedene Stationen seines Lebens fest, sammelte sie in der Dokumentation "Hubert Fichte: Der schwarze Engel". Der Film zeigt Eindrücke von Schrobenhausen genauso wie Auftritte des Schriftstellers in Hamburg. In dem Film kommen, neben Fichte selbst, noch einmal viele von denen zu Wort, die Fichte gekannt oder mit ihm gearbeitet haben. Die seine Freunde waren oder die Beobachter seiner Karriere, seine Lieben, seine Lektoren, seine Interviewpartner oder seine Konkurrenten."

(Gerlinde Drexler, Donaukurier 30. März 2005)


Heute, fast 20 Jahre nach Fichtes Tod, ist sein literarisches Werk fast in Vergessenheit geraten. Thomas Palzers Porträt Hubert Fichte: Der schwarze Engel zeigt, dass eine Beschäftigung mit Fichte ein spannendes Panorama an Facetten und Gegensätzen eröffnet. Offenbar hat jeder, der hier zu Wort kommt, Fichte und seine Literatur aus einer anderen Warte kennen gelernt.
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In der Literatur wollte der Autor die Devise verfolgen, "das Inkohärente stehen zu lassen", nicht viel anders hält es auch der Filmautor, der sich im Kommentar zurück hält, nichts glatt bügelt und auch auf den Anspruch der Vollständigkeit verzichtet. Am Ende steht das Bild eines Menschen, der seine ureigenen Widersprüche erst in der Literatur aufzuheben wusste.


(Lasse Ole Hempel, Frankfurter Rundschau 4. April 2005)

Hubert Fichte (1935-1986)
70. Geburtstag 21.3.2005 - 20. Todestag 8.3.2006