Zeichnung: Michael Mau
Jan-Frederik Bandel
Hubert Fichte - provisorische Lebensskizze

Hubert Fichte - eigentlich Hubert Johannes Fichte - wird am 21.3.1935 in Perleberg (Westprignitz) geboren, "um siebendreiviertel Uhr", wie das Geburtsregister vermerkt. Den Vater Erwin Oberschützki, der als Jude emigrieren muss und in Stockholm lebt, hat er nie getroffen. Die Mutter Dora Fichte, anthroposophisch bewegt und eben dem Elternhaus entflohen, kehrt nach der Geburt mit dem Sohn zurück zu ihren Eltern nach Hamburg-Lokstedt, wo Hubert Fichte aufwächst - unterbrochen durch die Kinderlandverschickung nach Bayern 1941, an die sich ein einjähriger Aufenthalt im Waisenhaus in Schrobenhausen anschließt.
Ab Juli 1943 wohnt Fichte wieder bei den Großeltern in Lokstedt, erlebt die Sprengbombenteppiche. Nach Kriegsende verliert Dora Fichte ihren Job als Kriegsaushilfe und arbeitet für verschiedene Theater als Komparsin und Souffleuse. Dadurch bekommt auch der Sohn Kontakt zum Theater und beginnt als Schüler, im Schauspielhaus, im Thalia-Theater, in den Kammerspielen und im Theater im Zimmer erst kleine, dann immer größere Rollen zu spielen. 1949 lernt er den Schriftsteller Hans Henny Jahnn kennen, der ihn zu einer Urinprobe bittet - und zu einem maßgeblichen Einfluss in sexueller wie literarischer Hinsicht wird. 1950 verlässt Hubert Fichte die Schule nach der zehnten Klasse. 1951 lernt er den Regisseur und Schauspieler Alexander Hunzinger kennen. Er arbeitet für den Hörfunk, fällt durch die Schauspielprüfung.
Hubert Fichte und Johanna Eckhoff
Foto: Rosemarie Clausen
Ein Stipendium des Institut Français ermöglicht es ihm, im Sommer 1952 zwei Monate in Tours Französischkurse zu besuchen - und von dem zusammengesparten Geld anschließend einen Monat lang im großen Bogen durch ganz Frankreich zu trampen, von Tours über Limoges nach La Rochelle, Toulouse, Coliure - bis hinüber nach Nizza. 1953 ist er wieder in Frankreich, wo er schließlich an Testanière gerät, einen alten, reich gewordenen Vagabunden und Opiumschmuggler, der eine Schafherde anschafft, die Fichte beaufsichtigt. Nach einem Abstecher nach Italien und einer kurzfristigen Rückkehr nach Hamburg trampt Fichte 1954 wieder los, diesmal nach Paris, wo er einige Zeit auf einem Hausboot auf der Seine lebt, dann an die - grad auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit stehende - Obdachlosenorganisation des Abbé Pierre gerät, erst als Bittsteller, dann als Mitarbeiter, schließlich als Leiter eines der Auffanglager, La Pomponnette. Bei der Bergung einer Kinderleiche infiziert er sich und landet mit einer fürchterlichen Hepatitis im Krankenhaus, trampt schließlich zurück nach  Hamburg, wo er nach einem Rückfall fast ein halbes Jahr das Haus hüten muss.
Wieder halbwegs gesund, beginnt er 1955 eine Landwirtschafslehre in Süderholm bei Heide (Holstein), schreibt abends erschöpft mäßig inspirierte Gedichte, verliebt sich in den Sohn seines Lehrherren, macht schließlich 1957 seine Landwirtschaftsprüfung und arbeitet ein halbes Jahr in einem Gestüt in Langenhagen bei Hannover. Dann bricht er wieder auf, diesmal nach Schweden, wo er auf einem anthroposophischen Hof in Järna schwererziehbaren Kindern das Melken beibringt. Ende 1959 kehrt er nach einem Schlenker über Finnland zurück in die Provence, wo er versucht, eine erotisch-künstlerische Lebenspartnerschaft mit dem Maler Serge Fiorio aufzubauen. Erstmals arbeitet er konzentriert literarisch und schreibt zahlreiche Theaterstücke, die er erfolglos verschiedenen deutschen Verlagen zuschickt und träumt von einer Karriere in Frankreich, die am Theater von Marseille beginnen soll. Eine Ausstellung Fiorios bringt ihn im Herbst 1961 zurück nach Deutschland, wo er mit der Fotografin Leonore Mau zusammenkommt - seiner Lebenspartnerin für die kommenden fünfundzwanzig Jahre - und erste literarische und kunstkritische Texte in Tageszeitungen unterbringen kann. 1962 zieht er wieder nach Hamburg, entdeckt die Palette - eine Kneipe in der Hamburger Neustadt, über die er später einen Roman schreiben wird - und veröffentlicht schließlich 1963 sein erstes Buch, "Aufbruch nach Turku".
Er erhält ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin, liest auf den Tagungen der Gruppe 47, bedichtet Willy Brandt und veröffentlicht seinen ersten Roman "Das Waisenhaus", für den er mit dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wird. In Portugal beginnt er mit der Arbeit an seinem Roman "Die Palette", der 1968 erscheint. Gleichzeitig beginnt er, für Rundfunk und Zeitschriften Reiseberichte zu verfassen. Die Einnahmen des zweiten Romans, der zum Überraschungserfolg wird, ermöglichen die erste Reise nach Brasilien.
1967 lernt Fichte den Pornofilmvorführer und späteren Bordellier Wolli Köhler kennen - und durch ihn ein neues St. Pauli, jenseits der schwulen Treffpunkte. Diese Erfahrungen gehen ein in den dritten Roman "Detlevs Imitationen ‚Grünspan'" (1971) und in den Interviewband "Interviews aus dem Palais d'Amour etc." (1972), der 1978 in erweiterter Fassung unter dem Titel "Wolli Indienfahrer" wiederveröffentlicht wird. Ohnehin arbeitet Hubert Fichte in den Siebzigerjahren - neben dem Abschluss der frühen Romanreihe mit dem "Versuch über die Pubertät" (1974) - zunehmend mit journalistisch-dokumentarliterarischen und ethnografischen Verfahren: Er reist nach Brasilien, Haiti, Mexiko, in die Dominikanische Republik, nach Trinidad, Senegal, Venezuela, Grenada, interviewt Salvador Allende, Juan Bosch, Luis Echeverria, Leopold Sedar Senghor und Jean Genet. Es entsteht in Zusammenarbeit mit Leonore Mau der Doppelband "Xango. Die afroamerikanischen Religionen I und II" (1976), dann das Interviewbuch "Hans Eppendorfer. Der Ledermann spricht mit Hubert Fichte" (1977), schließlich die Bände "Petersilie. Die afroamerikanischen Religionen III und IV" (1980) und "Lazarus und die Waschmaschine" (1985). Ein umfangreiches Rundfunkwerk dient als Geldquell und Probebühne.
Ende der Siebziger beginnt Fichte mit der Arbeit an dem - auf neunzehn Bände angelegten - Großprojekt "Die Geschichte der Empfindlichkeit", das unvollendet bleibt und nach seinem Tod am 8. März 1986 veröffentlicht wird. Bis auf einen letzten - von Hubert Fichte testamentarisch in seiner Veröffentlichung auf 2016 datierten - Band ("Die zweite Schuld. Fragmente") sind alle abgeschlossenen oder rekonstruierbaren Bände erschienen: Kurze und umfangreiche Romane, Glossenbände, Rundfunkarbeiten, ethnografische Studien.
Hubert Fichte liegt auf dem Friedhof Hamburg-Nienstedten begraben.

Hubert Fichte (1935-1986)
70. Geburtstag 21.3.2005 - 20. Todestag 8.3.2006